Prof. Paraskewopoulos: Kritische Anmerkungen zur gegenwartigen Wirtschaftspolitik 1/11 Univ. -Prof. Dr. Spiros Paraskewopoulos Direktor des Instituts fur Theoretische Volkswirtschaftslehre der Universitat Leipzig, Professur Makrookonomik Kritische Anmerkungen zur gegenwartigen Wirtschaftspolitik (Agenda 2010) 1 Die Griinde fur die Agenda 2010 2 1.1 Die chronische Arbeitslosigkeit 2 1.2 Das schrumpfende Wirtschaftswachstum 2 1.3 Die Engpasse bei der Finanzierung der Sozialsicherungssysteme 3 1.4 Die hohe Staatsverschuldung 4 2 Die von Regierung und Opposition angefiihrten Ursachen fur die bestehenden Probleme und die gezogenen Schlussfolgerungen 4 2.1 Die Lohn- und Steuerpolitik 4 2.2 Die Globalisierung 5 2.3 Der ubertriebene Sozialstaat 5 3 Eine kritische Stellungnahme zu den Begriindungen und zu den Schlussfolgerungen 6 3.1 Abkehr vom Erfolgsmodell „Soziale Marktwirtschaft" 6 3.2 Es wird (bewusst?) ein Wirtschaftssystemwechsel angestrebt 7 3.3 Die Realitat der wirtschaftspolitischen Daten wird nicht wahrgenommen 8 3.4 Die angebotsorientierte wirtschaftstheoretische Konzeption ist fur die Losung der gegenwartigen Probleme nicht geeignet 10 Dies ist die Dokumentation eines Vortrags von Prof. Spiros Paraskewopoulos. Er wurde am 20. Oktober 2003 bei einer Podiumsdiskussion der Jusos Leip- zig und der AfA Sachsen (Arbeitsgemeinschaft fur Arbeitnehmerlnnenfra- gen in der SPD) mit Ottmar Schreiner (MdB) zum Thema „Soziale Gerech- tigkeit im 2 1 . Jahrhundert" gehalten. Die Veroffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors. Weitere Informationen unter www.jusos-leipzig.de und jusos-leipzig@gmx.de . iP©@ Prof. Paraskewopoulos: Kritische Anmerkungen zur gegenwartigen Wirtschaftspolitik 2/1 1 1 Die Grunde fur die Agenda 2010 1. 1 Die chronische Arbeitslosigkeit In der Tat ist es so, dass seit Jahren das Problem der Arbeitslosigkeit in Deutschland exis- tiert. Dies betrifft allerdings nicht nur Deutschland sondern ist ein internationales Problem. Die Zahlen der Tabelle 1 bestatigen dies. Erwerbspersonen in Mio. und in % Erwerbstatige in Mio. und in % in Arbeitslose Mio. und in * 80 90 00 02 80 90 00 02 80 90 00 02 D: 27,95 (45,3) 30,80 (48,3) 40,33 (49,0) 40,55 (49,2) 26,89 (43,6) 28,92 (45,4) 36,44 (44,3) 36,49 (44,3) 1,06 (3,8) 1,88 (7,2) 3,89 (8,7) 4,06 (8,9) B: 4,11 4,09 (41,0) 4,26 4,33 (41,5) 3,75 3,82 (38,3) 3,97 4,01 (39,1) 0,36 (8,8) 0,27 (6,6) 0,29 (6,9) 0,32 (7,3) DK: 2,67 2,88 (56,0) 2,85 2,86 (53,3) 2,50 2,67 (51,9) 2,72 2,73 (50,8) 0,17 (6,5) 0,21 (7,2) 0,13 (4,4) 0,13 (4,5) F: 22,97 24,49 (45,1) 26,52 26,77 (44,7) 22,01 22,38 (39,4) 24,06 24,44 (40,8) 0,96 (6,2) 2,11 (8,6) 2,46 (9,3) 2,33 (8,7) 1: 22,56 23,89 (42,1) 23,69 24,31 (42,0) 20,87 21,76 (38,4) 21,23 22,00 (38,0) 1,69 (7,5) 2,13 (8,9) 2,46 (10,4) 2,31 (9,5) NL: 5,41 6,78 (45,4) 8,02 8,18 (50,9) 5,08 6,36 (42,5) 7,80 7,96 (49,5) 0,33 (6,1) 0,42 (5,9) 0,22 (2,8) 0,22 (2,7) S: 4,32 4,55 (53,2) 4,41 4,46 (50,2) 4,23 4,47 (52,2) 4,16 4,24 (47,7) 0,09 (2,0) 0,08 (1,7) 0,25 (5,6) 0,22 (4,9) UK: 27,06 28,94 (50,3) 29,38 29,61 (49,4) 25,33 26,94 (46,8) 27,79 28,21 (47,1) 1,73 (6,4) 2,00 (6,9) 1,59 (5,4) 1,40 (5,0) J: 56,49 63,83 (51,7) 67,64 66,83 (52,6) 55,36 62,49 (50,6) 64,46 63,22 (49,8) 1,13 (2,0) 1,34 (2,1) 3,18 (4,7) 3,61 (5,4) USA: 108,6 127,6 (51,0) 142,1 143,9 (50,0) 100,9 120,4 (48,2) 136,4 135,6 (47,1) 7,71 (7,1) 7,14 (5,6) 5,68 (4,0) 8,35 (5,8) Tabelle 1 Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft, Deutschland in Zahlen, Koln 2003 und eigene Berechnungen 1.2 Das schrumpfende Wirtschaftswachstum Auch in diesem Jahr wird die deutsche Volkswirtschaft keine nennenswerten Wachstums- raten erreichen. Von 0,6% Wachstum im Jahre 2001 und 0,2% im Jahre 2002 konnten keine spurbaren Impulse zur Bekampfung der Arbeitslosigkeit ausgehen. Auch im internationalen Vergleich schneidet Deutschland hier relativ schlecht ab. Die Zahlen in der Tabelle 2 besta- tigen auch dies. Prof. Paraskewopoulos: Kritische Anmerkungen zur gegenwartigen Wirtschaftspolitik 3/1 1 Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts 1971 -2002 Durchschnittliche jahrliche Wachstumsrate 1971- 1980 1981- 1990 1991- 2000 2000 2001 2002 BIP pro Kopf inMrd.C in 1.000 € A: 3,6 2,4 2,8 3,5 0,7 0,7 214 26,2 B: 3,4 2,0 2,4 3,7 0,8 0,7 261 25,4 D(W): 2,8 2,3 1.868 27,2 rv 1,6 2,9 0,6 0,2 2.108 25,6 DK: 1,9 1,6 2,3 2,8 1,5 1,4 182 33,9 E: 3,6 2,9 2,7 4,2 2,7 1,8 678 16,9 F: 3,3 2,5 1,9 3,8 1,8 1,0 1.494 24,9 FIN: 3,6 3,1 2,1 5,5 0,7 1,6 139 26,8 GR: 4,6 0,7 2,3 4,2 4,1 3,6 139 13.1 I: 3,6 2,3 1,6 2,9 1,8 0,3 1.239 21,4 IRL: 4,7 3,6 7,2 10,0 5,7 3,7 123 31.7 L: 2,6 5,0 5,3 8,9 1,0 0,6 ^^^Hl 48,9 NL: 2,9 2,2 2,9 3,3 1,3 0,1 442 27,5 P: 4,7 3,3 2,8 3,7 1,7 0,4 127 12,6 S: 2,0 2,2 2,0 4,4 0,8 1,7 254 28,6 UK: 1,9 2,7 2,3 3,1 2,0 1,5 1.642 27,4 J: 4,5 4,1 1,4 2,4 -0,6 -0,7 4.176 32,9 USA: 3,3 3,2 3,2 3,8 0,3 2,3 10.998 38,2 Tabelle 2 Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft, Deutschland in Zahlen, Koln 2003 und eigene Berechnungen 1.3 Die Eng passe bei der Finanzierung der Sozialsicherungs- systeme Es wird immer wieder gesagt, dass inzwischen die Lasten des Sozialstaates uberdimensio- niert sind, so dass sie die Leistungsmoglichkeiten der deutschen Vo Iks wirtschaft ubersteigen. Hier mochte ich Einspruch erheben. Die absoluten Leistungsdaten Deutschlands bestatigen diese Behauptung nicht. Die Wachstumsentwicklung in den Jahren 1971-2000 fuhrte, trotz der maBigen Wachstums- raten, die wir in der Tabelle 2 gesehen haben, zu einer Verdoppelung des realen BIP pro Kopf [ca. 12.500 € (1971), 25.000 € (2000)]. Mir leuchtet nicht ein, warum es heute - bei einer ver- glichen mit damals doppelten Leistung pro Kopf - Finanzierungsprobleme bei den sozialen Systemen geben sollte. Prof. Paraskewopoulos: Kritische Anmerkungen zur gegenwartigen Wirtschaftspolitik 4/1 1 1.4 Die hohe Staatsverschuldung Ein weiteres Argument, welches angeblich tiefgreifende Einschnitte notwendig macht, ist die hohe Staatsverschuldung. Die Frage die sich in diesem Zusammenhang stellt ist aber, mit welchen Kriterien stellt man fest, ob das AusmaB der staatlichen Verschuldung zu groB oder zu klein ist ? Diesbezuglich gibt es viele Vorstellungen und Empfehlungen. Eine davon ist das Kriterium der Vergleichbarkeit mit anderen Volkswirtschaften. Wenn man Deutschland im internationa- len Vergleich anschaut, dann stellt man fest, dass die gegenwartige Pro-Kopf- Verschuldung Deutschlands mit 15.560 € etwa im Durchschnitt der Lander der Eurozone liegt (Tabelle 3). Entwicklung des Schuldenstands in % des BIP Pro Kopf in € 2000 2001 2002 2002 A: 68,8 67,3 67,9 17.780 B: 109,6 108,5 105,4 26.770 D: 60,2 59,5 60,8 15.560 E: 60,5 56,9 54,0 8.990 F: 57,2 56,8 59,1 14.870 FIN: 44,5 43,8 42,7 1 1 .470 GR: 106,2 107,0 104,9 13.690 ": 110,6 109,5 106,7 22.820 IRL: 39,3 36,8 34,0 10.770 0,D 0,D 5,7 2.890 NL: 55,8 52,8 52,6 14.470 P: 53,3 55,6 58,0 7.310 EWWU: 66,6 69,2 69,1 15.510 DK: 47,4 45,4 45,2 15.330 S: 52,8 54,4 52,4 14.990 UK: 42,1 39,0 38,6 10.580 EU(15): 63,9 63,0 62,5 14.710 Tabelle 3 Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft, Deutschland in Zahlen, Koln 2003 und eigene Berechnungen Die von Regierung und Opposition angefuhrten Ursa- chen fur die bestehenden Probleme und die gezogenen Schlussfolgerungen 2. 1 Die Lohn- und Steuerpolitik Die Bundesregierung, die Opposition, die Mehrheit der Okonomen und die Medien wieder- holen standig, dass die ubertriebene gewerkschaftliche Lohnpolitik und die progressive staat- liche Steuerpolitik der letzten Jahrzehnte maBgebend zu der hohen Dauerarbeitslosigkeit bei- getragen haben. Damit haben sie, so die Argumentation, die wichtigste finanzielle Quelle der umlagefinanzierten Systeme der sozialen Sicherung erheblich beeintrachtigt. Prof. Paraskewopoulos: Kritische Anmerkungen zur gegenwartigen Wirtschaftspolitik 5/11 2.2 Die Globalisierung Weiter wird immer wieder angefuhrt, dass der sich verstarkende Konkurrenzdruck im Welt- handel sowie die zunehmende Mobilitat von Kapital und hochqualifizierter Arbeit, die durch die hohen Lohnkosten und die hohen Sozialausgaben in Deutschland beschleunigt werden, die Wettbewerbsfahigkeit der deutschen Volkswirtschaft minderten und mindern mit der Folge zunehmender Arbeitslosigkeit. So wird nach dieser Auffassung sichtbar, dass die hohen Lohn- kosten sowie die bestehenden Systeme der sozialen Sicherung und des sozialen Ausgleichs in der bisher betriebenen nationalen Form nicht mehr haltbar sind. Die Zahlen zu den Exporten und den Weltmarktanteilen Deutschlands in Tabellen 4 und 5 bestatigen allerdings die ange- fuhrte Diagnose uber die Wettbewerbsschwache der deutschen Volkswirtschaft nicht. Entwicklung der Exporte in Mrd. US $ 1991 1994 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 D: 402,8 426,9 524,7 512,9 543,5 543,6 551,8 570,8 612,2 F: 217,1 250,6 305,5 302,1 320,6 324,3 324,9 321,8 329,5 I: 169,5 191,4 252,3 240,4 245,8 235,6 240,5 241,1 252,0 UK: 185,0 205,1 258,5 280,4 274,0 272,2 284,9 273,1 275,9 J: 314,8 397,0 410,9 421,0 387,9 419,4 479,2 403,5 416,0 USA: 421,7 512,6 625,0 688,7 682,1 692,8 781,1 730,8 693,5 Tabelle 4 Quelle: WTO, International Trade Statistics 2002 und World Trade Report 2003 Die fiihrenden Exportlander 2002 Exportanteile im Welthandel in% Veranderung der Exporte 2001/2002 USA: 10,8 -5% 9,5 +7% J: 6,5 +3% F: 5,1 +2% China: 5,1 +22% UK: 4,3 + 1% Can: 3,9 -3% I: 3,9 +5% NL: 3,8 +5% B: 3,3 + 12% Tabelle 5 Quelle: WTO, World Trade Report 2003 2.3 Der ubertriebene Sozialstaat Ein weiteres Argument ist der Sozialstaat, der mit seiner angestrebten Solidaritat zu groBe okonomische Anreizschaden verursacht, zu schrumpfenden Einkommen fuhrt und sich damit als nicht mehr finanzierbar erweist. Vor allem das dicht geknupfte Netz Sozialnetz beeintrach- tige die wirtschaftlichen Aktivitaten, verleite zu Missbrauch, drange die Eigenverantwortung zuriick und begunstige Trittbrettfahrer. Diese Kritik richtet sich unuberhorbar hauptsachlich gegen das Soziale Element der Sozia- len Marktwirtschaft, welches aufgrund seiner angeblichen Uberdimensionierung die Leis- tungsfahigkeit der Akteure beeintrachtige und deshalb nicht mehr finanzierbar sei. Prof. Paraskewopoulos: Kritische Anmerkungen zur gegenwartigen Wirtschaftspolitik 6/1 1 3 Eine kritische Stellungnahme zu den Begrundungen und zu den Schlussfolgerungen 3. 1 Abkehr vom Erfolgsmodell „Soziale Marktwirtschaft" Der erste Basisdenkfehler der Bundesregierung und der Opposition allgemein ist, dass sie ignorieren, dass Deutschland nach dem Grundgesetz immer noch ein Sozialstaat sein muss und das Wirtschaftssystem immer noch Soziale Marktwirtschaft heifit. Bekanntlich wurde die Idee der Sozialen Marktwirtschaft unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland kreiert. Sie ist von ihren Vatern - die keine Sozialdemokraten waren - als ein „Dritter Weg" zwischen Kapitalismus und Kommunismus verstanden worden. Man wollte damit bewusst den ungebandigten und fast jeglichen sozialen Elementen entbehrenden marktwirtschaftlichen Kapitalismus des 19. und firuhen 20. Jahrhunderts sowie die totalitaren Zentralverwaltungswirtschaften, wie sie Stalin und Hitler in den dreiBiger Jahren durchgesetzt hatten, endgultig beseitigen. Die Vater der Sozialen Marktwirtschaft wollten auf der Basis einer freiheitlichen und demokratischen politischen Ordnung eine Synthese zwischen rechtsstaatlich gesicherter wirtschaftlicher Freiheit und den sozialstaatlichen Idealen der sozialen Sicherheit und der sozialen Gerechtigkeit erreichen. In dieser wirtschaftspolitischen Konzeption stand und steht der Begriff „Marktwirtschaft" fur die wirtschaftliche Freiheit, die es den Konsumenten und Produzenten ermoglicht, ihre okonomischen Aktivitaten nach eigenen Vorstellungen gestalten zu konnen. Durch die wirt- schaftliche Freiheit sind sie in der Lage ihre Fahigkeiten, ihre Arbeitskraft, ihr Geld- und Sachkapital nach eigener Wahl und eigener Verantwortung einzusetzen und die Konsequen- zen dieser Entscheidungen zu tragen. Diese Freiheiten finden allerdings ihre Grenzen dort, wo die Rechte Dritter oder die verfassungsrechtliche Ordnung verletzt werden und die Marktme- chanismen aus welchen Grunden auch immer diesen Anspruch nicht erfullen. Der Begriff „sozial" bringt zuerst zum Ausdruck, dass die Marktwirtschaft allein durch ihre Leistungsfahigkeit die Voraussetzungen fur einen breiten Wohlstand schafft und damit das Soziale in sich tragt. Ihr besonderer sozialer Charakter beschrankt aber zugleich die Markt- freiheit dort, wo die Menschenwurde verletzt wird und die Ergebnisse nach den Wertvor- stellungen der Gesellschaft als nicht sozial genug erscheinen. In den letzten 50 Jahren hat man in der Bundesrepublik Deutschland auf der Basis einer mehr oder weniger dynamischen, leistungsfahigen und vielgestaltigen Wirtschaftsordnung ein vollstandiges System materiellen und sozialen Schutzes fur breite Schichten der Bevolke- rung errichtet. Diese Wirtschaftsordnung gilt nicht nur fur die Lander der EU als Vorbild, sondern seit den politischen und okonomischen Transformationsprozessen der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auch fur die osteuropaischen Transformationslander. Deshalb dachten und denken moglicherweise alle Bundesregierungen der letzten 20 Jahre wirtschaftspolitisch falsch, wenn sie versuchen die Ursachen des niedrigen Wirtschaftswachs- tums, der hohen Arbeitslosigkeit und der Engpasse bei der Finanzierung der Sozialsicherungs- systeme durch eine ausschliefiliche angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die zum groBen Teil nicht sozialmarktwirtschaftlich ist, zu bekampfen. Diese Politik hat offensichtlich, wie die gegenwartige Krise zeigt, nicht die erwarteten und auch von den meisten Okonomen ver- sprochenen Ergebnisse gebracht. Hatte man deshalb nicht Grund genug - insbesondere unter einer sozialdemokratisch gefuhr- ten Regierung - uber einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik nachzudenken? Prof. Paraskewopoulos: Kritische Anmerkungen zur gegenwartigen Wirtschaftspolitik 7/1 1 3.2 Es wird (bewusst?) ein Wirtschaftssystemwechsel angestrebt Um die breite Offentlichkeit zu uberzeugen, dass man einen Systemwechsel von der Sozia- len zur freien Marktwirtschaft braucht, wird permanent eine pessimistische Stimmung er- zeugt, indem die bisherigen Errungenschaften der Sozialen Marktwirtschaft verschwiegen und die Argumente der Gegner der Sozialen Marktwirtschaft besonders betont werden. So wird offensichtlich bewusst ignoriert, dass trotz niedrigem Wirtschaftswachstum und ho- her Arbeitslosigkeit, Deutschland immer noch zu den reichsten Landern der Welt gehort. Fol- gende Daten belegen diese Aussage: (1) Es gibt ein sehr hohes Bruttoinlandsprodukt pro Kopf Dieses betrug 2002 in den Alten Bundeslandern 27.200 €; ein Wert, der innerhalb der Europaischen Union nur von weni- gen Lander ubertroffen wird (siehe Tabelle 2). (2) Dieses hohe Bruttoinlandsprodukt pro Kopf wird bei der kurzesten Jahresarbeitszeit rea- lisiert. In Deutschland wird der langste Jahresurlaub gewahrt und werden durchschnitt- lich die wenigsten Stunden pro Jahr und Beschaftigtem gearbeitet (siehe Tabelle 6). Leistungsindikatoren von Industrielandern im Jahr 2002 BIP inMrd.C Beschaftigte in Mio. Jahressollarbeitszeit in Stunden Produktivitat, BIP je Er- werbstatigenstunde in € A: 214 3,78 1.720 32,91 B: 261 4,01 1.702 38,24 D: 2.108 36,75 1.579 36,33 D(W): 1.868 30,45 1.557 39,40 D(O): 240 6,30 1.685 22,61 DK: 182 2,73 1.650 40,40 E: 678 16,29 1.722 24,17 F: 1.494 24,44 1.605 38,09 FIN: 139 2,39 1.708 34,05 GR: 139 3,92 1.840 19,27 1: 1.239 22,00 1.720 32,74 IRL: 123 1,73 1.820 39,28 L: 22 0,28 1.784 44,04 NL: 442 7,96 1.670 33,25 P: 127 5,02 1.769 14,30 S: 254 4,24 1.710 35,03 UK: 1.642 28,21 1.693 34,38 CH: 286 3,95 1.844 39,65 J: 4.176 63,20 1.803 36,65 USA: 10.998 135,58 1.904 36,21 Tabelle 6 Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft, Deutschland in Zahlen, Koln 2003 und eigene Berechnungen (3) In Deutschland werden aufgrund der hohen Arbeitproduktivitat die hochsten Bruttolohne der Welt gezahlt. Im Jahre 2001 kostete im industriellen Sektor in den alten Bundeslan- dern eine Stunde Arbeit durchschnittlich ca. 26 €. Die gleiche Stunde Arbeit erwirtschaf- tete im gleichen Jahr ca. 40 € (siehe Tabelle 6). Prof. Paraskewopoulos: Kritische Anmerkungen zur gegenwartigen Wirtschaftspolitik 8/1 1 (4) Das materielle und soziale Infrastrukturnetz gilt als eines der besten der Welt. (5) Die Konsumausgaben pro Kopf gehoren zu den hochsten der Welt, obwohl zugleich liber 130 Mrd. Euro jahrlich gespart werden. (6) Es werden die hochsten Umweltschutzausgaben getatigt. (7) Es werden sehr hohe Exporte und Weltexportanteile erreicht (siehe Tabellen 4 und 5). Die deutschen Weltexportanteile sind in den letzten Jahren sogar gewachsen. Neuesten Zahlen zu Folge hat Deutschland inzwischen die USA als groBte Exportnation abgelost. Das Letztere spricht vor allem fur die starke Wettbewerbsfahigkeit und fur den groBen Wett- bewerbsvorteil der deutschen Wirtschaft im Welthandel. Ausgerechnet dieses bisher erfolgreiche Konzept einer Wirtschaftsordnung soil nach der Be- urteilung der sogenannten Experten, der Bundesregierung, der Opposition und der Medien fur die Bewaltigung der heutigen Probleme nicht mehr geeignet sein. Es werden vor allem die Ergebnisse, die Ausdruck des Sozialen Charakters des Systems sind, stark kritisiert. Die deutsche Volkswirtschaft kann sich angeblich das bisherige erfolg- reichste Wirtschafts- und Sozialsicherungssystem der deutschen Geschichte nicht mehr leis- ten. Diese einseitigen wissenschaftlichen und politischen Stimmen beeinflussen sehr geschickt mit Hilfe der Medien die breite Offentlichkeit und tragen massiv zum Entstehen einer allge- meinen pessimistischen Stimmung in der ganzen Gesellschaft bei. 3.3 Die Realitat der wirtschaftspolitischen Daten wird nicht wahr- genommen Es wird allgemein behauptet, dass die Abgabenquote in Deutschland (Steuer- und Sozialab- gaben in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) eine Dimension angenommen hat, die die Dyna- mik des marktwirtschaftlichen Systems erheblich schwacht. Diese Behauptung ist schlichtweg falsch und wird auch durch permanente Wiederholung nicht wahr. Laut OECD-Statistik wird Deutschland im Jahre 2001 mit einer Abgabenquote von 36,4% innerhalb der EU nur von Spanien (35,2%), Portugal (34,5%, 2000) und Irland (29,2%) unter- boten. Schweden (53,2%), Danemark (49,0%), Finnland (46,3%), Belgien (45,3%), Frank- reich (45,4%), Osterreich (45,7%) oder Italien (41,8%) haben teilweise eine erheblich hohere Abgabenquote als Deutschland (siehe Tabelle 7, aus: Deutschland in Zahlen, Institut der Deutschen Wirtschaft, Koln 2003). Prof. Paraskewopoulos: Kritische Anmerkungen zur gegenwartigen Wirtschaftspolitik 9/1 1 Abgabenquote und Staatsquote Abgabenquote Staatsquote 1980 1990 2001 1980 1990 2002 A: 40,3 40,4 45,7 48,1 48,6 50,5 B: 43,7 43,2 45,3 58,6 53,3 46,1 D: 38,2 35,7 36,4 47,9 43,8 46,1 ■ DK: 45,4 47,1 49,0 56,2 56,0 50,8 E: 23,9 33,2 35,2 32,2 39,7 37,6 ■ F: 41,7 43,0 45,4 46,1 49,3 49,4 FIN: 36,9 44,8 46,3 38,1 44,5 44,8 ■ GR: 24,3 29,3 ■ ■ 30,6 51,0 42,8 I: 30,4 38,9 41,8 41,9 53,1 46,3 ■ IRL: 32,6 33,5 29,2 48,9 37,8 31,1 L: 43,0 40,8 42,4 - 41,2 42,5 ■ NL: 45,2 43,0 39,9 55,8 49,4 42,9 P: 24,7 29,2 34,5 23,8 40,6 41,5 ■ S: 48,8 53,6 53,2 60,1 56,4 52,6 UK: 35,1 36,8 37,4 43,0 41,8 38,9 ■ CDN: 32,0 35,9 35,2 38,8 46,7 37,5 J: 25,4 30,1 27,1 32,0 31,3 37,6 ■ USA: 27,6 26,7 29,6 31,8 33,6 31,9 Tabelle 7 Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft, Deutschland in Zahlen, Koln 2003. Zwischen 1991 und 2001 ist die Abgabenquote in Deutschland von 35,7% (1990) auf 36,4%, also um 0,7 Prozentpunkte gestiegen. Kann man damit glaubhaft von einer bedrohlichen Ent- wicklung der Kosten des Sozialstaates sprechen? Hatte man angesichts der Finanzierung der Lasten der deutschen Wiedervereinigung nicht sogar mit einer weit starkeren Zunahme der Abgabenlast rechnen mussen? Insofern kann nicht ernsthaft behauptet werden, dass die im internationalen Vergleich relativ niedrige deutsche Abgabenquote von 36,4% die Leistungs- fahigkeit des Wirtschaftssystems Deutschlands ernsthaft gefahrdet. Verglichen mit den meisten Staaten der EU ist Deutschland, wie die Zahlen zeigen, weit davon entfernt, die Aktiven in der Wirtschaft mit Abgabenlasten zu uberfordern. Das wirkliche Problem ist stattdessen die unterschiedliche Verteilung der Abgaben, also der Lasten. Das Problem der Finanzierung der Soziallasten besteht nicht in einer extrem hohen durchschnittlichen Abgabenbelastung, sondern in der extrem ungleichen Verteilung dieser Lasten. Der Durchschnittsverdiener mit ca. 2.160 Euro Bruttolohn im Monat hat eine durchschnitt- liche Abgabenbelastung von ca. 40,6%, die durchschnittliche gesamtdeutsche Abgabenquote ist aber 36,4%. Die uberdurchschnittliche Belastung des Durchschnittsverdieners fuhrt dazu, dass besonders in konjunkturschwachen Zeiten, in welchen die Arbeitslosigkeit steigt und die Wachstums- raten sinken, die Einkommen der Durchschnittsverdiener relativ und absolut abnehmen und somit Engpasse bei der Finanzierung der Sozialsysteme sowie bei der Konsumnachfrage ent- stehen. Prof. Paraskewopoulos: Kritische Anmerkungen zur gegenwartigen Wirtschaftspolitik 1 0/1 1 Deshalb sollte man erwarten, dass eine sozialdemokratisch gefuhrte Regierung eine Wirt- schaftspolitik betreibt, die ordnungs- und prozesspolitisch die sozialen Institutionen nicht noch weiter zu Lasten des Durchschnittsverdieners verandert, indem sie massiv in das Um- lagesystem eingreift und vom Durchschnittverdiener zusatzliche Abgaben abverlangt, wie zusatzliche private Vorsorge, was de facto eine Erhohung der Sozialbeitrage bei insgesamt reduziertem Leistungsangebot der Sozialsysteme bedeutet. Vielmehr ware eine Wirtschaftspolitik angebracht, die alle Einkommensgruppen gemafi ihrer Einkommen prozentual moglichst gleich mit Abgaben belastet. Eine solche Politik wird abgesehen von der Realisierung des Gerechtigkeitsanspruchs des Grundgesetzes konjunkturbelebend wirken, da durch die leistungsgerechtere Umverteilung der Lasten die Durchschnittsverdiener, die eine relativ hohe Konsumneigung haben, mehr verfugbares Einkommen behalten und ausgeben werden. Deshalb empfehlt sich in der gegen- wartigen Situation eine aktivere Konjunkturpolitik im Sinne von Fiskalpolitik. 3.4 Die angebotsorientierte wirtschaftstheoretische Konzeption ist fur die Losung der gegenwartigen Probleme nicht geeignet Das inzwischen vergessene, aber immer noch gultige Stabilitatsgesetz gibt der Bundesregie- rung sehr viele Moglichkeiten auch beschaftigungspolitisch aktiv zu werden. Der Sachverstandigenrat empfiehlt dagegen seit zwanzig Jahren eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die auch in einer Situation mit uber 4 Millionen Arbeitslosen und einer durchschnittlichen Auslastung der sachlichen Produktionskapazitaten von ca. 83% Zuriickhal- tung des Staates hinsichtlich einer aktiven Beschaftigungspolitik und eine Verstarkung der Marktkrafte verlangt. Wie sollen aber die Marktkrafte aktiviert werden, wenn bei einem Geldvermdgen von ca. 3 Billionen Euro, bei niedrigsten Realzinsen und Inflationsraten aller Zeiten mafiig investiert, konsumiert und lebhaft gespart wird? Nach der klassischen okonomischen Theorie musste in einer Situation, in der die Zinsen und das Preisniveau sehr niedrig sind, viel investiert und viel konsumiert werden, d.h. dank dem Zins- und Preismechanismus des Marktes mussten die Marktkrafte in diese Richtung aktiviert werden. Das ist aber trotz der bisher betriebenen angebotsorientierten Wirtschaftspolitik nicht der Fall. Der Sachverstandigenrat empfiehlt seit vielen Jahren den Bundesregierungen und den Tarif- partnern MaBigung bei Steuererhohungen und bei Lohnabschlussen, da sonst die Wettbewerb- sfahigkeit der Volkswirtschaft leiden wurde. Ein solches Leiden ist, wie die niedrige Abgabenquote und die immer neue Rekorde errei- chenden Exportquoten zeigen, nicht sichtbar. Die rege Exporttatigkeit allein, so gut sie auch ist, schafft allerdings ohne Verstarkung der Binnennachfrage keine Vollbeschaftigung. Die nicht ausgelasteten Kapazitaten, d.h. das zusatzlich mogliche Angebot, mussen im Inland nachgefragt werden. Gerade diese Nachfrage, die fur eine Vollbeschaftigung notwendig ware, wird seit Jahren vom Marktmechanismus nicht gewahrleistet, obwohl extrem niedrige Zins- satze und das entsprechende Geldeinkommen vorhanden sind. Mit anderen Worten haben in diesem Fall nicht die sozial marktwirtschaftlichen Institutionen versagt, die gerade deshalb geschaffen worden sind, um den Schwachen in Krisenzeiten zu helfen und damit das gesellschaftliche System zu stabilisieren, sondern die Marktkrafte, die sich aus welchen psychologischen und sonstigen Griinden auch immer durch den Markt- mechanismus nicht aktivieren lassen. Prof. Paraskewopoulos: Kritische Anmerkungen zur gegenwartigen Wirtschaftspolitik 11/1 1 Hier handelt es sich um ein Marktversagen, welches durch die klassische okonomische Marktheorie nicht erklart wird. Auch diese Einsicht in der Vergangenheit liber das potentiell mogliche Marktversagen war ein Grund, der zur Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft fuhrte. Man sollte also nicht so lange warten, bis der stockende Marktmechanismus irgendwann selbst eine Losung anbietet, sondern bereits vorher wirtschaftspolitisch aktiv dafur sorgen, dass er, wenn er stockt, in Gang gesetzt wird. Dies war auch eine der Hauptthesen der Keynesianischen Prozesstheorie, die in Deutsch- land in Vergessenheit geraten ist. Nach dieser Theorie gibt es Situationen in marktwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaf- ten, in denen die Marktmechanismen aus okonomisch unerklarlichen Griinden versagen. Hier ist von Liquiditats- oder Investitionsfallen die Rede. Und dies gilt momentan meines Erach- tens in Deutschland. Stellt man dies fest, dann ist die Politik gefordert. Sie soil allerdings die Marktmechanismen nicht abschaffen, sondern Mittel finden um sie zu aktivieren. In der ge- genwartigen Situation ist zur schnellen und wirksamen Bekampfung der konjunkturellen Ar- beitslosigkeit ein Konjunkturprogramm angebracht und notwendig. Der wirtschaftspolitische Weg, der sich momentan anbietet, ware m. E. Beschaftigungspoli- tik, um die nicht ausgelasteten Kapazitaten zu erschlieBen. Dies wird zu konjunkturell beding- tem Wirtschaftswachstum fuhren, welches dann zu mehr Investitionen, zu mehr Wachstum und zu beschleunigter Beschaftigungszunahme fuhren kann. Dies ware die richtige Reihenfol- ge einer ausgewogenen sozialmarktwirtschaftlichen und auch sozialdemokratischen Wirt- schaftspolitik. Eine solche Politik ware nicht die Losung aller Probleme. Sie wurde aber fur Wirtschaft und Politik Mittel, Stimmung und Zeit schaffen, um die langerfristigen strukturellen Probleme, die es ohne Zweifel auch gibt (z. B. Bildungs-, Burokratie-, Demographieproblem), allerdings ohne Panik und Untergangsstimmung, angehen zu konnen.